Impuls zum 13. Juli 2025
Von Klaus Hagedorn (Oldenburg), Kommission Aktive Gewaltfreiheit und pax christi Münster
„Anderen Nächster werden – Zur Nächstenliebe ohne Ränge und Grenzen“
Die Haltung des barmherzigen Samariters
Vorneweg
„Man liebt zuerst seine Familie, dann seine Nachbarn, dann seine Gemeinschaft, dann die Mitbürger im eigenen Land – und erst danach kann man sich um den Rest der Welt kümmern.“ Ein US-Vizepräsident tut offen kund, dass er eine solche Hierarchie der Nächstenliebe als Christ sieht und lebt und damit hohe Politik gestaltet. Dieser Idee einer gestuften Nächstenliebe ist heftig zu widersprechen. Da es um nichts Geringeres als den Herzschlag des Christentums geht, widersprachen im Februar 2025 auch Papst Franziskus und der damalige Kardinal Robert Francis Prevost (heute Leo XIV.) unabhängig voneinander umgehend. „Jesus verlangt von uns nicht, unsere Liebe zu anderen abzustufen.“ Nächstenliebe – christlich geprägt – kennt keine Grenzen. Sie zeigt sich nicht stückweise in immer schwächeren konzentrischen Kreisen. Liebe und Zuwendung im Geiste Jesu sind universell und grenzenlos – ohne Ränge, ohne Priorisierungen. Sie finden ihre Prägung nicht durch Herkunft, sondern durch Haltung und Handlung.
Das Herzstück einer solchen Haltung im Geiste Jesu ist das heutige Tagesevangelium, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37). Ein Toragelehrter stellt an Jesus die Einstiegsfrage: „Und: Wer ist mein Nächster?“
Ich stelle mich
Ich stelle mich auf die Seite der Opfer.
Ich stelle mich auf die Seite des Friedens.
Ich stelle mich nicht taub.
Ich stelle mich zu denen,
die nach einer neuen Orientierung fragen.
Ich stelle mich zu denen,
die für mehr Gerechtigkeit und gerechten Frieden eintreten.
Ich stelle mich zu denen,
die anderer Ansicht sind.
Ich stelle mich zu denen,
die für die Zukunft kämpfen.
Ich stelle mich zu denen,
die den ersten Schritt tun.
Ich stelle mich zu denen,
die meine Solidarität brauchen.
Ich stelle mich –
und stelle mich manchmal bloß.
Ich stelle mich –
nicht immer ohne Scheu.
Daher bitte ich: Gott, blicke auf mich.
Ich stelle mich zu denen,
die aus dem Geiste Jesu leben.
Ich glaube an die Kraft dieses Geistes.
Daher bitte ich: Gott, blicke auf mich.
Evangelium vom 15. Sonntag i.J. (C) - Lukas 10,25-37
„Und da! Ein Gesetzeslehrer stand auf. Er sagte, um ihn zu versuchen: Lehrer, was habe ich zu tun, um unendliches Leben zu erben? Er sprach zu ihm: Was ist im Gesetz geschrieben? Wie liest du da? Er antwortete und sprach: Liebe den Herrn, deinen Gott; aus deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Stärke und mit deinem ganzen Sinnen! Und: Deinen Nächsten wie dich selbst! Er sprach zu ihm: richtig hast du geantwortet. Tu das! Dann wirst du leben. Der aber wollte sich rechtfertigen und sprach zu Jesus: Und nun – wer ist mein Nächster?
Jesus nahm das auf und sprach: Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinunter und fiel unter eine Räuberbande. Die zogen ihn aus, schlugen ihn wund, machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig ging ein Priester auf jenem Weg hinunter, sah ihn an und ging vorüber. Desgleichen auch ein Levit. Der kam an den Ort, auch er sah ihn an und ging vorüber. Ein Samariter, der unterwegs war, kam ebenda hin, sah ihn an, und es ward ihm weh ums Herz. Er trat hinzu, verband seine Wunden und goß Öl und Wein darauf. Dann setzte er ihn auf sein Reittier, brachte ihm zum Wirtshaus und versorgte ihn. Am anderen Morgen zog er zwei Denare heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Versorge ihn, und was du etwa dazuhin aufwendest – ich gebe es dir zurück, wenn ich wieder herkomme. Wer von diesen Dreien scheint dir der Nächste dessen geworden, der unter die Räuberbande gefallen ist? Er sprach: Der das Werk des Erbarmens an ihm getan hat. Und Jesus sprach zu ihm: Geh und tu auch du desgleichen.“
(Übersetzung: Fridolin Stier, Das Neue Testament, München/Düsseldorf 1989)
Entdeckung einer neuen Sichtperspektive – Die Kopernikanische Wende im Glauben
Uns Menschen ist der aufrechte Gang der gemäße. Ein Tier geht meistens zur Erde gewandt – auf allen Vieren. Der Mensch geht aufrecht. Wir bücken uns alltäglich aber oft herunter: um Heruntergefallenes aufzuheben, um mit Kleinkindern auf Augenhöhe zu sein, um Verletzte zu versorgen, über das Bett einer kranken Person, um einen Gegenstand, der unser Interesse geweckt hat, genauer anzusehen. Vieles im Leben „sieht“ man nur wirklich, wenn man sich bückt.
Vom wirklichen „Sehen“ erzählt auch die Geschichte über den barmherzigen Samariter bei Lukas.
Auf dem Weg zwischen Jerusalem und Jericho liegt ein Mann. Er war unter die Räuber gefallen, war ausgeplündert und halbtot liegengelassen worden. Zwei Personen sahen ihn und gingen weiter: ausgerechnet Leute des Tempels, ein Priester und ein Levit. Sie mögen kultische Gründe gehabt haben, von einem Blutüberströmten die Finger zu lassen. In ihrem aufrechten Gang sind sie überzeugt, recht gehandelt zu haben. Ein Samariter, von dem man es nach jüdischer Auffassung am wenigsten erwarten sollte, leistet Erste Hilfe und sichert die weitere Versorgung. Er lässt sich von der Not des Überfallenen berühren und hat Mitleid, d.h. er leidet mit ihm mit. Er nimmt die Perspektive des Opfers ein, behandelt seine Wunden und bringt ihn in Sicherheit. Es gibt Situationen, da ist das Sich-Bücken notwendiger als der aufrechte Gang. Vieles im Leben sieht man nur wirklich, wenn man sich bückt, wenn man echt wahrnimmt, was ist und was wirkt.
„Wer ist mein Nächster?“ – Für Jesus ist dies im Kern die falsche Fragestellung. Wichtig ist nicht zu klären, wer mein Nächster ist, sondern, wem ich zum Nächsten werden kann, weil ich ihm oder ihr helfe und tue, was im Jetzt wichtig und Not wendend ist. Jesus fragt also von der Erfahrung der augenblicklichen Situation aus, die sich urplötzlich ergeben kann. Er fragt aus der Perspektive des Menschen, der Hilfe und Zuwendung braucht. Jesus fragt nicht ego-zentrisch (also sich oder mich als Mittelpunkt des Geschehens sehend): Wann und wie bin ich Nächster für den anderen? Sondern: Wann und wie ist der andere als Notleidender der Nächste für mich? Er stellt also den anderen in den Mittelpunkt, um den herum ich mich „drehe“. Das ist die Entdeckung einer neuen Sichtperspektive des Glaubens – wie die sog. Kopernikanische Wende, die Entdeckung von Nikolaus Kopernikus vor 500 Jahren, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Dieses revolutionäre Modell stellte das bis dahin vorherrschende geozentrische Weltbild, das die Erde im Zentrum sah, in Frage.
Wer sich auf solche Blickrichtung einlässt und so fragt, kann sich nicht mehr raushalten. Denn Not gibt es immer und überall, nah und fern. Dieser Perspektive gemäß gibt es nach Jesus keinen einzigen Grund, der zum Vorübergehen berechtigt, wenn konkretes helfendes Zupacken angesagt ist. Barmherzigkeit kennt keine Grenzen. Dies ist eine klare Absage an jegliche Hierarchisierung von Nächstenliebe. Wer Nächstenliebe abstuft bis hin zu nationaler Begrenzung, verfehlt die Botschaft Jesu. Jegliche Migrationspolitik oder die Abschaffung oder Reduzierung von Katastrophen- oder sog. Entwicklungs-Hilfen für den Globalen Süden lassen sich –christlich- nicht rechtfertigen durch Rangfolgen oder Hierarchisierungen der Nächstenliebe. Das führt zur Perversion des Politischen, wo populistisch zugunsten des Eigenen die Anderen ausgegrenzt werden. Dagegen gilt es aufzustehen und zu protestieren.
Nächstenliebe gründet sich nicht durch Herkunft, sondern durch Haltung und Handlung. Das Evangelium erinnert, in jedem Menschen den Nächsten zu sehen und Hilfeleistung nicht auf einen engen Kreis der Nahestehenden zu beschränken. Bei den Unter-die-Räuber-Gefallenen muss es nicht unbedingt blutig zugehen. Vernachlässigte Kinder, Straßenkinder, zerbrochene Beziehungen, verlorener Arbeitsplatz, vereinsamte Alte, unwillkommene Migrant:innen und Asylsuchende, geflüchtete KDVer, versteckte Armut sind einige Stichworte. Aufmerksamkeit, Gespräch, Begleitung, Vertraulichkeit, Einsatz von Kontakten und Beziehungen können oftmals viel helfen.
Wir sind heute breit informiert über die Nöte der Menschen auf der ganzen Welt – bedingt durch Krieg, Terror, Klimawandel, Ungerechtigkeit u.v.a.m. Von ihrer Not sollen wir uns berühren lassen und aus ihrer Sicht die Welt und uns selbst betrachten – und die nötigen Schritte tun. Vieles im Leben „sieht“ man nur wirklich, wenn man sich bückt! Das heißt: nicht „dicht“ machen (also nichts hören, sehen, sagen wollen) und mich abschotten von Informationen und so etwas wie eine „emotionale Wohlstandsverwahrlosung“ praktizieren.
Ich schließe mit Worten des Theologen Fulbert Steffensky: „Die Kirche ist mit ihren Traditionen ein Schatzhaus der Erinnerung. Die Moral, die Hoffnung und Zuversicht einer Gesellschaft leben von der Erinnerung an Geschichten von gelungener Würde und von Erzählungen von der Möglichkeit des Lebens inmitten seiner Bedrohungen. Wo sagt sich eine Gesellschaft, dass die Hungernden einmal satt werden? Wo sagt sie sich, dass die Sanftmütigen das Land besitzen sollen und nicht die Machtbesessenen? Wo verspricht sie, dass die Leidenden nicht trostlos sein werden? Wo sagt sie, dass die Friedensstifter die Söhne und Töchter Gottes sein werde? Wo sagt sie, dass alle, die um der Gerechtigkeit wegen verfolgt werden, Erben der Fülle Gottes sein werden? Diese Geschichten braucht die Gesellschaft. Ich suche eine demütige Kirche, die weiß: Wir sind nicht die einzigen in unserer Gesellschaft, die von Gott erzählen. Wir sind nicht die einzigen, die für den Frieden eintreten und auf dem Recht der Armen bestehen. Wir sind nicht die einzigen, die große Erzählungen der Rettung des Lebens weitersagen. Wir sind Mitspieler im großen Spiel der Humanität, nicht Schiedsrichter und nicht Linienrichter. Wir sind wichtig, und wir sind nicht alles. Gott ist alles, und das genügt. Deshalb: Unsere Frage kann nicht sein: Von wem grenzen wir uns ab und bestätigen uns selbst mit dem Mittel der Abgrenzung? Die Frage ist vielmehr: Mit wem zusammen spielen wir das große Spiel der Humanität und der Verehrung Gottes?“ (in: Publik Forum EXTRA Oktober 2023, S. 20f)
Sieben Seligpreisungen und Bitten
1 Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit,
die das Leid dieser Welt nur schwer ertragen,
die es wagen sich aufzulehnen, die um Freiheit ringen,
während andere sie niederzwingen,
während andere versuchen, sie klein zu machen,
Sie mögen Ermutigung spüren, dein Licht, Gott, in dieser Welt entfachen.
2 Selig, die sanftmütig auf die Schöpfung schauen,
die auf Nachhaltigkeit und erneuerbare Energien bauen,
die dein Werk erhalten und für die nächsten Generationen einen Platz
zum Wohnen, zum Lieben, zum Leben entfalten.
Sie mögen behütet sein und Bestärkung erfahren
und Zuversicht, die durch dich, Gott, getragen ist.
3 Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit wegen,
die all ihre Kraft in den Widerstand legen
und sich nicht mit dem Hier und Jetzt abgeben.
Sei bei den vielen Männern und Frauen,
die furchtlos gewaltsamen Regimen entgegentreten,
die sich trauen, Widerspruch einzulegen,
weil sie den unbedingten Wunsch nach Freiheit hegen.
Gott des Lebens, habe Acht auf sie,
und behüte sie bei Tag und Nacht.
4 Selig, die Barmherzigkeit zeigen, wo andere sich zurückziehen,
die voller Liebe auf diese Welt und alle Menschen schauen,
und in dieser rauen Zeit auf Vielfalt bauen - statt auf Einfalt.
Sie mögen deinen Segen, Gott, erfahren, damit sie ihn in die Herzen anderer legen.
5 Selig, die den Frieden bringen,
die auf die Liebe und Würde und die Geschwisterschaft aller Menschen bauen;
wir bitten, dass ihre Bemühungen gelingen mögen insbesondere derzeit
in Palästina / Israel, im gesamten Nahen Osten, in der Ukraine, in Russland, im Südsudan, in Myanmar und so vielen anderen Orten.
Lass dich erfahren als Kraft, um die Stimme für ein Leben ohne Gewalt und in Selbstbestimmung zu erheben.
6 Selig, die trauern und weinen in der Nacht,
wenn gar die Einsamkeit über ihren Schlafplätzen quält
oder die Angst ein Feuer der Verzweiflung entfacht.
Schenke neues Vertrauen, irgendwie doch Zuversicht, auf einen neuen Morgen.
7 Selig, die arm sind vor dir,
die nicht aus Gier, sondern aus Liebe handeln
und das Streben nach Macht in die Suche nach gerechtem Frieden verwandeln.
Ermutige du, unser Gott, zu Glaube, Liebe und Hoffnung zugleich,
mach dich erfahrbar als mit uns auf dem Weg, damit wir bereit und offen bleiben,
deine Botschaft in diese Welt zu tragen.
Ein Segenswort
Geht in der Kraft, die euch gegeben ist,
geht einfach, bleibt bewegt,
nehmt wahr, bleibt wach,
geht mit Zuversicht,
in vielem, trotz vielem, vielem zum Trotz,
und haltet Ausschau nach Liebe, Frieden und Gerechtigkeit
und Gottes Geistkraft geleite Euch! Amen.
Ein Buchhinweis
In einem sehr vorlesenswerten Kinder-Bilder-Buch (für Kinder ab 5 Jahren) wird die Geschichte vom barmherzigen Samariter aus der Perspektive eines kleinen Jungen erzählt – mit der Fragestellung: Wo und wann bin ich der Nächste für jemanden?
Margot Käßmann, Der barmherzige Samariter. Illustriert von Stefanie Scharnberg, München 2021